Möglichkeit eines Erinnerungsortes, eines (Ge-) Denkorts

Damit das Ende nicht nur ein Ende, sondern auch ein Anfang ist.

In Kemnat könnte an den 1992 von Neonazis ermordeten Kosovoalbaner und dreifachen Familienvater Sadri Berisha (55 Jahre alt) und an den bei gleicher Gelegenheit zum Krüppel geschlagenen, siebenfachen Familienvater und Landsmann Sahit Elezaj (46 Jahre alt) erinnert werden. Beide wurden in der Nacht auf den 8. Juli 1992 im Schlaf von Neonazis überfallen.

 

Wenige Monate später, am 23. November 1992, ermorden Neonazis drei Türkinnen im Brandanschlag von Mölln.

Rassistische Anschläge wiederholen sich seitdem leider immer wieder, so die Morde des NSU oder der Anschlag von Hanau.

2022 hat sich der Mord an Sadri Berisha zum 30mal gejährt, ohne dass die Öffentlichkeit in irgendeiner Weise davon Notiz genommen hätte. 

Überlegung für einen möglichen (Ge-)Denk- oder Erinnerungsort

Das Haus, in dem der Überfall/Mord stattfand, ist heute durch ein Industriegebäude der Firma Blässinger überbaut. Als Ort für ein Erinnerungs- und Denk-Zeichen wäre der Tatort möglich (Kreuzung von Hagäcker- und Schönbergstraße). Es befinden sich dort mehrere kleine Grüninseln auf dem Seitenstreifen, die für eine Aufstellung in Frage kämen. Dies war Ausgangspunkt für meinen Vorschlag.

Über einen alternativen Standort, der mehr im Blick der Bevölkerung wäre, kann nachgedacht werden. Der Baumhain beim Stadthaus wäre ein möglicher prominenter Ort.

Letztlich werden Stadt und Gemeinderäte darüber entscheiden müssen, ob und wo ein Erinnerungszeichen entstehen darf.

Ein kleines 1:200 Modell des Tatorts mit Himmelsleiter liegt vor, siehe unten.

 

Ideen

Eine erste Idee war ein ca 5m hoher Baseballschläger, der von Rechtsradikalen gern als Schlagwaffe mitgeführt wird, derlei Schlaginstrumente wurden auch in Washington beim Sturm aufs Kapitol am 6.1.2021 zuhauf mitgeführt. Ein schwarzer Baseballschläger mit der Aufschrift "black beauty" war die Haupttatwaffe in Kemnat, ein weiterer Baseballschläger diente als 2. Tatwaffe. Die bedrohliche Symbolik eines überdimensionalen Baseballschlägers wäre jedoch sehr täterzentriert und mancher würde dieses Zeichen womöglich entsprechend deuten oder empfinden.

Eine zweite Überlegung war, eine Art von muslimischem Grab darzustellen. Da ein muslimisches Grab im ursprünglichen Sinne jedoch sehr unscheinbar ist und lediglich mit einem Stein markiert wird als Hinweis auf einen Bestattungsort und Aufforderung, sich im Grabbereich würdig zu verhalten, ist es fraglich, ob beispielsweise ein Findling am Wegesrand überhaupt auffällt. Zumal eine konkretisierende Inschrift mit den Namen der beiden Opfer aus Angst unerwünscht scheint.

 

Schließlich fiel meine Wahl auf eine "Himmelsleiter", die in allen drei abrahamitischen Religionen vertreten ist und insofern ein übergreifendes und verbindendes Symbol darstellt, sowie eine Inschrift im Sockel.

Ich habe bereits ein paar mal mit temporären Himmelsleitern gearbeitet, dort weitere Unterseiten, z.B. zu einer temporären Installation von Himmelsleitern in Ostfildern 2013/14.

Blick von der Hagäcker Str. Richtung Süd, rechts die Schönbergstr. und die Blässinger-Gebäude an der Stelle, wo früher das Haus Hagäcker 5 stand, der Tatort. Nördlich der Kreuzung wären an der Westecke (hier im Vordergrund) zwei kleine Rasenstücke mit jeweils einem Baum - vielleicht ein Standort für eine Skulptur zum Thema?

Ebenfalls nördlich der Kreuzung Hagäcker- und Schönbergstr., aber an der Ostecke ebenfalls zwei kleine Rasenstücke mit jeweils einem Baum - ein möglicher Standorte für eine Gedenk-Skulptur, die ich für mein Modell gewählt habe.

Grünflächen jeweils mit Baum. Die rote Fläche entspricht dem abgerissenen Tatort Hagäckerstr. 5

Modell, in dem die Himmelsleiter an der N-O-Ecke der Kreuzung platziert wurde.

Blick im Modell von Nord Richtung Süd. Rechts hinten das Gebäude Blässinger Hagäcker 7.

Blick im Modell nach Nord, die Schraube entspricht einer Person von ca. 1,8m Größe. Links das Gebäude Blässinger Hagäcker 7.

Skizze einer "Himmelsleiter" mit 10,5m Höhe, wobei die untern 3,5m ab Oberkante Boden keine Sprossen hat, um eine Besteigung zu verunmöglichen. Eine Besteigung wäre nur mit einer mindestens 4m hohen Leiter möglich und wäre dann gewiss in eigener Verantwortung. Der Sockel könnte bis 80cm aus dem Boden ragen und damit würfelförmige Gestalt haben, sodass die Leiter dem Hundebereich enthoben ist.

Der Sockel böte außerdem die Möglichkeit, ein verallgemeinernde Inschrift auf 4 Seiten anzubringen, z.B.

                                                                       Nichts gehört der Vergangenheit an,

alles ist noch Gegenwart

und kann wieder Zukunft werden.

Fritz Bauer

Fritz Bauer (1903-1968) ist in Stuttgart geboren und wurde als hessischer Generalstaatsanwalt Initiator des Frankfurter Auschwitz Prozesses 1963-65

Das Zitat Fritz Bauers gibt einen deutlichen Hinweis auf die deutsche Geschichte und dessen gefährliche Kontinuität. Diese Kontinuität zeigt sich im ideologischen Wahn (eines Teils) der Täter, so titelte die Stuttgarter Nachrichten am 11.5.1993 über den Prozeß "Hitlers Einfluß heute: Karussel des Wahnsinns". 

Wofür könnte die Himmelsleiter stehen?

Natürlich sollte das Denkzeichen nicht ein "Endprodukt" sein, sondern genau das Gegenteil: ein Ausgangspunkt, ein Kristallisationspunkt für Neues, weil man sich natürlich fragt, was das Zeichen zu bedeuten hat, wenn man daran vorbeikommt.

In seiner allgemeinsten Form - ganz ohne religiöses Hintergrundwissen - wäre es eine Darstellung von Hoffnung und Freiheit, aber auch von Gefahr und Tod. Die Inschrift von Fritz Bauer weist auf den dunkelsten Teil unserer Geschichte hin und warnt vor einer Wiederholung der Geschichte, wenn man sie vergißt oder nicht aus ihr lernt. Idealerweise würde ein "Lernort Geschichte" entstehen.

Ein QR-Code könnte über die Inschrift hinaus weitere Informationen vor Ort anbieten und zu einer Info-Webseite lenken.

Aufgrund dieses (Ge-) Denkorts, dieses Erinnerungszeichens kann sich die Bevölkerung immer wieder an die Sache erinnern, auch Schüler / Jugendliche können gezielt in der Schule oder in Jugendgruppen etc. damit befasst werden.

Vielleicht könnte es langfristig gar zu einem Erkennungszeichen in Ostfildern werden.

- Ein Zeichen gegen Rassismus, stereotype Fremdenfeindlichkeit, Hass und Hetze setzen 

- Demokratie ist kein Selbstläufer: ein Bewußtsein für den hohen Wert unserer gegenwärtigen Demokratie entwickeln.

- Verrohung und Selbstjustiz, rassischem Überlegenheitsdenken und Demokratieverachtung, Ausgrenzung und Diskriminierung entgegenwirken

- Lernort Geschichte mit den Zielen Aufklärung, Erinnerung vs. Verdrängung, differenzierte Wahrheit und Wissen versus einfache Parolen und Verschwörungstheorien. Gewissensbildung, Empathie, Toleranz und Zivilcourage.

Jüdischer Kulturkreis:

Marc Chagall "Jakobs Traum", Gemälde H195 x B 278cm, 1950er Jahre, Musee Nationale Message Biblique Marc Chagall, Nizza

Christlicher Kulturkreis:

Darstellung des schlafenden Jakobs mit der Himmelsleiter im Hintergrund, wie sie in den ursprünglichen Lutherbibeln zu finden war (um 1534). LZB in Flensburg - Niederdeutsche Lutherbibel von 1574-1580, Bild 11B; bereits in der Lutherbibel von 1534 war die Abbildung abgedruckt. Photo Credit Sönke Rahn.

Islamischer Kulturkreis:

Darstellung der Nachtreise (Miradsch Nameh): Der Erzengel Gabriel geleitet Mohammed während seiner Himmelfahrt ins Paradies auf seiner geflügelten Stute al-Buraq zu Mose. Miniatur aus dem Buch der Himmelfahrt des Propheten, 16. Jahrhundert, Paris, Bibliothèque Nationale de France. Ms suppl. turc 190 fol. 24v.

Miradsch bedeutet wörtlich soviel wie „Leiter“, „aufsteigen, emporsteigen“ und bezeichnet im Islam das wahrscheinlich größte Wunder des Propheten, über das im Koran berichtet wird. Dieses Wunder besteht aus zwei Abschnitten: der nächtlichen Reise von der Kaba in Mekka zur Al-Aksa Moschee in Jerusalem und dem Aufstieg (Miradsch) von dort in den Himmel.

Miradsch, die Himmelfahrt Mohammeds, ist ein wichtiger islamischer Feiertag, der dieses Jahr auf den 18. Februar 2023 fällt.

Die Vorstellung einer Himmelsreise existiert auch in der indischen und persischen Mythologie.

Illustration in "Livre de leschiele Mahomet" (Buch von Mohammeds Leiter), Oxford, Bodleian Library, Laud Misc. 537, fol. 1r., Anfang 14. Jahrhundert, in altfranzösisch verfasst, einzig existierendes Exemplar, Pergament. Bildquelle

Improvisierte Holzleitern in der spanischen Enklave Melilla, mithilfe derer etliche Flüchtlinge aus Marokko versuchen, den hohen Grenzzaun zu überwinden.

Hinrichtung des Josef Süß Oppenheimer am 4. Februar 1738 vor den Toren Stuttgarts. Der reale Galgen maß mit Fundament zwölf Meter. Detail aus: Kupferstich von Lucas Conrad Pfandzelt und Jacob Gottlieb Thelot, 1738, Württembergische Landesbibliothek Stuttgart, Graphische Sammlungen.

Siehe 

Am Josef Süß Oppenheimer-Platz in Stuttgart haben Bettina Bürkle und ich 1999 ein Kunstprojekt mit Kindern und Jugendlichen durchgeführt.

Hinrichtung der Mennonitin Anneken Hendriks 1571 auf dem Scheiterhaufen in Amsterdam mit Schießpulver im Mund.. Darstellung aus dem Märtyrerspiegel, Radierung von Jan Luyken. Bildquelle