Friedensfeier
8. Mai 2020 - Trinitatis (7. Juni 2020)
Stiftskirche Tübingen
Der Wind weht am Turm der Tübinger Stiftskirche. Hoffen wir, dass damit auch Geist und Inspiration unterwegs sind.
Zwischen dem Rund der Uhren wurden zum 8. Mai 2020 weiße, bewegte Quadrate installiert - eine Quadratur des Kreises. Der runde Fluss der Zeit wird zur Stunde Null und für diesen Tag angehalten, nur die weißen Quadrate bewegen sich noch, atmen in Sonne und Wind und verweisen auf eine tabula rasa, auf eine Zäsur. Sie erinnern fern auch an den Neubeginn 1789, an den Hauch von "Liberté, Égalité, Fraternité", als anfangs auf die öffentlichen Uhren in Paris geschossen wurde. Die Leerstellen beweisen nichts und missionieren nicht. Sie fragen, befragen. Sie zeigen in vier Himmelsrichtungen nur das an, was der Geist des Betrachters aus dieser Projektionsfläche macht. Kant sagt von einer "ästhetischen Idee", dass man sie nicht in Begriffe fassen könne, dass sie aber "viel zu denken" gebe.
Es geht bei Weitem um keine weiße Weste. Im Gegenteil: der 8. Mai ist für uns zuallererst ein Tag von Schuld und Scham. Das nationalsozialistische System hat bis in die letzten Stunden funktioniert. Am 8. Mai 1945 und danach ist es unseren Vorfahren vermutlich ganz allmählich wie Schuppen von den Augen gefallen, was für ein gigantisches Leid und Unrecht sie über die Welt gebracht haben: den Zivilisationsbruch eines nie zuvor dagewesenen Genozids an den Juden, über 60 Millionen Kriegstote, über eine Milliarde Tonnen Kriegsschutt in deutschen Städten.
Das Ende des Krieges war nicht das Ende des Leids. Um es mit Martin Walser zu sagen: "Seit Auschwitz ist noch kein Tag vergangen...", für die Opfer natürlich.
Haben "die Deutschen" das alles verinnerlicht und analysiert, haben sie ihre Lektion wirklich verstanden? Lehren daraus gezogen? Hat es zu einer Katharsis geführt? Mich interessiert dieser Prozess der Erinnerung bzw. der des Vergessens und Verdrängens, die Täterschaft unserer Vorväter und unser heutiger Umgang damit - der Prozess unserer andauernden Selbstbefragung. Siehe auch ausführlicher Text unten.
Stiftskirche von der Münzgasse aus gesehen. Das Haus hinten links vor der Kirche ist die Münzgasse 13, ab 1936 Sitz der Tübinger Polizeidirektion (Kripo und Gestapo), die politisch und rassisch Abweichende in Tübingen verfolgte, siehe hierzu auch Geschichtspfad Tübingen, Station 5
Foto: Stadtarchiv Tübingen
Am Kirchturm der Stiftskirche wurden Nazifahnen gehisst, ein Foto davon ließ sich allerdings nicht finden (siehe ganz unten Stadtführer Setzler). Die beiden auf dem Turm vorhandenen Fahnenstangen wollten wir deshalb nicht verwenden.
Derselbe Blick am 8. Mai 2020 - die Uhr stand 24 Stunden lang auf 12 bzw. 0 Uhr, flankiert von den weißen Quadraten.
Postkarte zur "Friedensfeier".
Dank für die Abbildungsrechte an die Autorin, Fotografin und den Verlag.
Ansicht vom Neckar aus, links der Hölderlinturm
In den frühen Morgenstunden von der Neckargasse aus, die noch nicht besonnt wird.
Gut sichtbar hier auch die präfaschistischen und zugleich zutiefst jüdischen Symboltiere der Evangelisten am Turm (links der Adler Johannes, in Mitte der Löwe Markus, rechts der Mensch mit Flügeln = Engel für Matthäus, der Stier Lukas Richtung Holzmarkt ist hier nicht sichtbar). Sie wurden 1932/33 von Fritz von Graevenitz (1892 - 1959) geschaffen. 1935 porträtierte er Adolf Hitler, die Bronzebüste wurde 1936 in Goebbels Stuttgarter NS-Schau „Schwäbisches Kulturschaffen der Gegenwart“ gezeigt, 1938 wurde er Direktor der Stuttgarter Kunstakademie. In der Endphase des Zweiten Weltkriegs nahm ihn Hitler im August 1944 in die Gottbegnadeten-Liste der wichtigsten bildenden Künstler auf, was ihn vor dem Kriegsdienst bewahrte. Graevenitz hat mehrere Bücher über sein Werk veröffentlicht, beginnend 1933 mit seinen Aufzeichnungen Bildhauerei in Sonne und Wind – Erfahrungen und Empfindungen bei der Ausführung der vier Evangelistensymbole am Turm der Tübinger Stiftskirche (Quelle: Wikipedia).
"Monatelang hat Fritz v. Graevenitz auf hohem Gerüst am Turm der Tübinger Stiftskirche, von Wind und Wetter umbraust, mit dem rohen Stein gerungen, und was ihn bei diesem harten Kampf um die Form innerlich bewegt, bedrängt und erfüllt hat, das schildert er mit packend-sachlichen Worten in dem einzigartigen Werk, das - weit über das Persönliche und das Thema hinaus - tiefe Einblicke in das künstlerische Schaffen überhaupt gewährt." (aus dem Klappentext des Buches).
Blick auf Münzgasse und Schloß Hohentübingen. Vorne rechts das von der weißen Fahne halbverdeckte Haus ist Münzgasse 13, ab 1936 Sitz der Tübinger Polizeidirektion (Kripo und Gestapo), heute Studentenwohnheim.
Hilfloser Klärungsversuch am Vorabend des 8. Mai.
Demonstration zum 8. Mai 2020 auf dem Holzmarkt, die Vermummung ist auf Corona zurückzuführen...
Ob die stillen weißen Quadrate wohl wahrgenommen werden?
Stolpersteine auf dem Holzmarkt am 8. Mai 2020.
Ein Stolperstein auch in der Vorhalle der Stiftskirche:
Der Kirchenmusikdirektor und (Wankheimer) Pfarrer Richard Gölz wurde am 23. Dezember 1944 während eines Gottesdienstes festgenommen und ins KZ Welzheim verbracht. Die Familie Gölz hatte 1943/44 im Wankheimer Pfarrhaus wiederholt untergetauchte Juden versteckt.
In Bezug auf die braune Geschichte auch der protestantischen Theologie Tübingens sei auf Prof Dr Gerhard Kittel verwiesen.
Sein Grab auf dem Stadtfriedhof einhält die hebräische Inschrift "barucha nire or", "In deinem Licht sehe ich das Licht", Psalm 36,10.
Mehr siehe https://de.wikipedia.org/wiki/Gerhard_Kittel darin:
"Im Jahr 1946 urteilte der international anerkannte Altorientalist W. F. Albright: 'In view of the terrible viciousness of his attacks on Judaism and the Jews, which continues at least until 1943, Gerhard Kittel must bear the guilt of having contributed more, perhaps, than any other Christian theologian to the mass murder of Jews by Nazis.' "
Eine kleine temporäre Spontanidee mit dem wimpelartigen Stoffanschnitt, meine bevorzugte Variante von Neubeginn.
Wind und abrasiver Sandstein sind unerbittlich: am 16.5.2020 frisch repariert, wehen die Fahnen erneut bei wolkenlosem Himmel, als wäre nicht gewesen. "Bildhauerei bei Sonne und Wind" hat Graevenitz seine Aufzeichnungen zu den vier Evangelistensymbolen genannt. Daran muss ich bei dieser temporären Arbeit immer wieder denken.
Himmelfahrt, 21.5.2020
Himmelfahrt
Postkarten und Zeitungsartikel am Marktplatz
Friedensfeier
Klaus Illi *1953 lebt und arbeitet in Kemnat bei Stuttgart. Zahlreiche Ausstellungen und Ausstellungsbeteiligungen quer durch die Republik. Seine großen Themen sind neben anderen Blindheit und Verdrängung, Atmen, Reinigung und Rhythmen. Medium sind häufig pneumatischen Installationen, neben anderem Atem- und Katharsis-Maschinen, Ratschen-Orchester, Beteiligung Wolkenatem usw. Realisierung in Zusammenarbeit mit Bettina Bürkle *1961, ebenfalls Kemnat.
In den letzten Monaten Vorbereitung und Durchführung verschiedener Aktionen zum Kriegsende in Ostfildern: besondere Würdigung des Widerstands einfacher und oft vergessener Menschen. Dabei spielen weiße Fahnen oder Tücher, oft unter Lebensgefahr gezeigt, eine herausragende Rolle. Illi ist interessiert am Moment des Übergangs von einem Herrschaftsbereich in einen anderen: was für die einen Kapitulation oder Verrat bedeutete, war für andere Befreiung - in unterschiedlichen zeitlich einander überlappenden Ebenen rund um die „Stunde Null“. Tübingen hat seine friedliche Übergabe hauptsächlich der Klugheit und dem Mut des Lazarettoberarztes Theodor Dobler zu verdanken. Dobler ließ unter schwierigsten Umständen verschiedene Lazarettsperrbereiche für die knapp7000 Verwundeten in der Stadt deklarieren, in deren (ca.400m-)Umkreis keinerlei Truppen stationiert oder bewegt werden durften. So schuf er die Basis dafür, dass er in den sich auflösenden Herrschaftsstrukturen im richtigen Augenblick Parlamentäre mit weißen Fahnen den von Hirschau heranrückenden französischen Truppen entgegenschicken konnte. Damit verhinderte er in letzter Minute einen schon vorbereiteten Luftangriff auf Tübingen und konnte Verhandlungen über das Schicksal der Stadt aufnehmen.
Für die Stiftskirchenaktion Friedensfeier bilden die „weißen Fahnen“ nur den Ausgangspunkt, denn es gibt zahlreiche Assoziationen und Parallelen zu unserer Situation mit Corona. In diesem Zusammenhang spielt die Farbe „Weiß“ eine wichtige Rolle: neutral, waffenlos, friedlich, verhandlungsbereit, die Tradition der weißen Fahnen reicht zurück bis ins Römische Reich und in China bis zur Han-Dynastie um Christi Geburt. Weiß ist die „Farbe“ in den Kliniken, der Ärztinnen und Ärzte, der Heilung. Traditionell auch die Farbe der Reinheit und Freude, nach wie vor sichtbar als bevorzugte Hochzeitsfarbe. Traditionell sind Nationalflaggen farbig, darum symbolisiert das Weiß auch die Überwindung bloß nationalen Denkens, wichtiger denn je gerade heute.
Auf den weithin sichtbaren Feldern am Oktogon des Turms zwischen den Zifferblättern der Kirchenuhr am Stiftskirchenturm sollen ab 8. Mai vier „weiße Zeichen“, einfache 3,1 x 3,1 m große Quadrate aus weißem Stoff angebracht werden. Sie sollen dort bis Himmelfahrt oder Pfingsten bleiben – abhängig von der Dynamik, die sich aus dieser Aktion entwickelt. Der Stoff wird manchmal rein weiß erscheinen, dann wieder – mit allen Arten von Übergängen - in der Sonne leuchten und leicht glänzen. Formal handelt es sich um „bewegte Quadrate“, abhängig von den jeweiligen Windverhältnissen. Meist werden sie streng geometrisch als Quadrate sichtbar unbewegt hängen; zuweilen dann auch von einem Lufthauch zart bewegt leicht schwingen; und manchmal aber auch als Fahnen wehen. Es sind zunächst friedliche Leerstellen, sie schaffen Verbindung für Menschen unterschiedlicher Nationen und Religionen, sind offen für Projektionen und bilden ein kreatives Potential mit vielen Assoziationsmöglichkeiten.
Ausgangspunkt der Aktion war die Beschäftigung mit der "Stunde Null" 1945 in Tübingen (geplant ist u.a., auch die Stiftskirchenuhr am 8.Mai bei 0 Uhr anzuhalten). Dabei ergab sich die erschütternde Erkenntnis, dass die Geschichte der Stiftskirche von 1933-45 nicht nur nie aufgearbeitet, sondern später im Gegenteil offenbar systematisch verschleiert wurde. Es gibt keine Darstellung der Geschichte in dieser Zeit, und wir werden uns dieser Aufgabe in aller Klarheit stellen. Deutlich ist schon jetzt, dass es mindestens zeitweise ein für uns schreckliche Bündnis zwischen Stiftskirche und den Nazis gab. Wichtig bei der Aufarbeitung heute die weiße Fahne: friedliche, gewaltlose Versöhnungsbereitschaft, und nicht liebloses Besserwissen und Aburteilen im Nachhinein.
Dann der Bezug zu Corona. Auch heute hat u.a. das beruhigende Wissen um die weißgekleideten Ärzte in der Tübinger Uniklinik uns über die schlimmste Zeit geholfen. Von Anfang an war von der größten Herausforderung seit dem 2. Weltkrieg die Rede. Jetzt treten wir in eine Phase der harten Auseinandersetzungen um die Verteilung der Lasten und der Gerechtigkeit ein. Immer deutlicher üben mächtige Interessenverbände Druck aus und stellen ihre Forderungen. Jetzt sollten wir als Kirche hellwach sein und dazu helfen, alte Feindbilder zu überwinden, einen gerechten Ausgleich und Vernunft zu ermöglichen. In den sich verschärfenden Kämpfen gegensätzlicher Interessen könnten die weißen Fahnen Zeichen der Versöhnung, der Verhandlungsbereitschaft und des Ausgleichs sein.
Spannend sind die vielfältigen kunstgeschichtlichen Bezüge: biblisch knüpfen wir an die Tradition des Bilderverbots an. Weiße Quadrate sind ja eigentlich keine „Bilder“ mehr – auf das Minimum reduzierte Zeichen, weniger ist kaum möglich, so lange überhaupt noch etwas dargestellt werden soll. Dadurch ergeben sich vielfältige Bezüge zur Minimal Art (Morris und Rauschenberg) und besonders zu Zero (wieder die „Stunde Null“): „Zero ist die Stille. Zero ist der Anfang….Zero ist weiss.“(aus dem Zero-Maifest 1963) Eine „Reduktion alles Figürlichen und die puristische Konzentration auf die Klarheit der reinen Farbe und der dynamischen Lichtschwingung im Raum“ (so Karin Thomas 1977) – eine präzise Beschreibung unserer „Objekte“. Die spannende Geschichte der Quadrate hat eine große Tradition, und lässt sich zurückverfolgen bis zu ihrem Ursprung, dem legendären "Schwarzen Quadrat" von Malewitsch; dieser hatte sich in vorher nie gekannter Radikalität von den goldenen russischen Ikonen abgesetzt – sein erstes Quadrat war in Moskau bewusst provokativ im Ikonenwinkel platziert. Hier bilden unsere bewegten Weißen Quadrate, ohne dass wir uns überheben wollen, in der Reflexion auf diese Tradition auch einen gewissen Gegenpol, und werden unter ganz anderen Vorzeichen wieder neu in einen religiösen Kontext gerückt.
Darüber hinaus ist Weiß die Farbe von Ostern, unsere Paramente in der Kirche sind von Ostern bis Pfingsten weiß. Unsere Aktion spielt ja auch zwischen der bewussten Aufnahme der Tradition von Grabtüchern – der Überwindung des letzten großen Feindes, des Todes - und der Siegesfahne des Auferstandenen. Zwischen den runden Zifferblättern der Uhr geben die Weißen Quadrate einen Hinweis auf die Transparenz von Zeit, auf das, was sich jenseits aller Zeit für uns verbirgt.
Der Titel unserer Aktion soll auch an Hölderlin erinnern, zu dessen beinahe ausgefallenem 250.Geburtstag wir von der Stiftskirche aus mit der Friedensfeier von Herzen gratulieren.
Helmut Schneck
Herstellung der weißen Quadrate, siehe unten / Making of "White Squares" see below
Making of the white squares.
Erste Probehängung bei recht steifer Brise (Ausschnitt aus Foto Andrea Bachmann)
Erste Nacharbeit mit Sonnenschutz am 10.5.2020.
Was für ein Arbeitsplatz...
2. Nacharbeit: der heftige Wind der vergangenen Tage und das Sandsteinmauerwerk des Turms, wie Schleifpapier wirkend, haben die Bleiband-Beschwerung am unteren Saum des S-O-Quadrats (Richtung Neckargasse) bis zum 16.5. freigelegt.
Ein Ende der Nachbesserung ist nach mehreren Stunden in Sicht.
Ein Bezug zu von Graevenitz und dessen "hartem Kampf mit dem rohen Stein" bei der Ausführung der vier Evangelistensymbolen eine Etage tiefer drängt sich auf. "Bildhauerei in Sonne und Wind" – das könnten wir noch mittragen und bestätigen (siehe Ausführungen weiter oben), obwohl genäht und nicht gehauen wurde. Sonne und Wind sind elementar auch für die quadratischen Stofffelder.
Uns hat "erfüllt" das sanfte, bisweilen auch wilde Atmen der weißen Flächen im Wind.
Das Säuseln und Sausen, Schwingen und Schweben, Wedeln und Wehen, Wellen und Wallen, Glänzen und Gleißen hoch über der Stadt hat uns Ausgelüftet, Erfreut, bisweilen Besorgt, und zu diesem Pathos inspiriert, allerdings ganz und gar unheroisch.
Bedrängt hat uns nichts, höchstens der innere Schweinehund. Überrascht haben uns die abrasive Wirkung des "rohen Steins" und die unglaublichen, demütig machenden Kräfte der Natur.
Taubendreck muss weg... Erinnert mich an zwei widersprüchliche Graffiti 1999 in Hamburg: "Nazidreck muß weg", eine S-Bahnminute weiter "Raus mit den Saubernazis".
Ob das die letzte Reparatur war? Vermutlich nicht. Die Belastung des Stoffs ist extrem. Hier besiegt leider das Harte das Weiche.
Aus: Wilfried Setzler "Tübingen - Auf alten Wegen Neues entdecken. Ein Stadtführer", Tübingen, 2. Auflage 1998
mit Dank an den Autor und den Verlag für die Abbildungserlaubnis.